Kirmes im Kopf by Angelina Boerger
Autor:Angelina Boerger [Boerger, Angelina]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch eBook
veröffentlicht: 2023-02-13T23:00:00+00:00
Es ist nie zu spät! â Wieso auch eine Diagnose im
Erwachsenenalter noch Sinn macht â¦
Bevor ich darauf eingehen möchte, was mögliche Schritte sein könnten, die man nach einer Diagnose in Angriff nimmt, möchte ich vor al em eine Frage beantworten, die ich immer mal wieder gestel t bekomme. Sie
lautet: »Wieso braucht man überhaupt eine Diagnose im
Erwachsenenalter?« Diese Frage taucht häufig im Zusammenhang mit
folgendem Gedanken auf: Wenn ein Mensch doch jetzt so viele Jahre ohne Diagnose »klargekommen« ist, was sol eine ADHS-Diagnose dann noch
für ihn tun? Hier gibt es einen entscheidenden Faktor, der die direkte Antwort liefert: der sogenannte individuel e Leidensdruck. Wenn wir
Strategien erlernt haben, die es uns möglich machen, mit ADHS zu leben, ohne dass es uns oder andere groÃartig stört, verspüren wir tendenziel wenig von diesem individuel en Leidensdruck.
Ich möchte das einmal an dem Beispiel der »Unordnung« klarmachen:
Viele Menschen mit ADHS neigen zu desorganisiertem Verhalten, und das bereits seit der Kindheit. Es fäl t ihnen schwer, Struktur und Ordnung in ihren Al tag zu bringen und somit auch beispielsweise in ihr Zuhause. Das ist an sich erst mal nicht weiter schlimm, denn es geht niemanden etwas an, ob wir unsere Socken bügeln und nach Farben sortieren oder Müsli aus einer Tasse essen, weil wir keine saubere Schüssel mehr finden. AuÃerdem muss Unordnung keineswegs bedeuten, dass man gänzlich unorganisiert
ist. Wer im vermeintlichen Durcheinander immer direkt al es findet, was er*sie sucht, hat sicher ein System, auch wenn es anders ist als das der meisten Menschen.
Wenn die Unordnung al erdings unsere Umwelt mit beeinflusst, kann
sie zu einem Problem werden. Genauso, wenn wir uns selbst mit dem
Chaos um uns herum einfach nicht wohlfühlen. Dann kostet es uns Nerven, Kraft oder Geld und hält uns davon ab, produktiv oder zufrieden zu sein. Viel eicht haben das Chaos in unserem Kinderzimmer und die
ständigen Ermahnungen unserer Eltern dazu geführt, dass wir uns als
erwachsener Mensch ein gewisses Ordnungssystem antrainiert haben.
Oder wir sind im Internet bei unserer Recherche zu »Wie halte ich
Sauberkeit und Ordnung?« auf einen simplen Putz- und Aufräumplan
gestoÃen, an den wir uns im Al tag, so gut es geht, halten. Viel eicht haben wir uns aber auch anderweitig Hilfe gesucht, indem wir eine Putzhilfe eingestel t haben. Oder wir einigen uns mit unser*er Partner*in darauf, dass er*sie die meisten Aufgaben im Haushalt übernimmt, während wir
uns um andere Dinge kümmern. Oder wir haben uns ganz einfach damit
abgefunden, dass in unseren vier Wänden manchmal chaotische Zustände herrschen, die überquel ende Mül tonne oder der Staub auf der Kommode stört uns nicht sonderlich. Viel eicht war es in unserer Kindheit schon immer ein bisschen unordentlich zu Hause, und eigentlich fanden wir das schon damals viel gemütlicher als bei den Schulkamerad*innen, bei denen man vom Boden hätte essen können.
In solchen Fäl en ist unser desorganisiertes Verhalten wenig stark
ausgeprägt oder hat kaum Einfluss auf unser Wohlbefinden oder das
unseres Umfelds. Der damit eventuel verbundene Leidensdruck ist in der Regel minimal. Es kann aber auch ganz anders aussehen: Zum Beispiel
könnte es sein, dass sich das Chaos im Laufe unseres Lebens immer mehr ausgeweitet hat.
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